University of Vienna, 2020. — 311 p.
Die Rekonstruktion der urindogermanischen Verwandtschaftsterminologie und Fragen zur Etymologie und kulturellen Interpretation von Verwandtschaftsbegriffen in indogermanischen Sprachen haben in der historischen Linguistik eine lange Tradition. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis in die jüngste Zeit hat in der Indogermanistik jedoch der Blick auf den zeitgenössischen anthropologischen Diskurs sowie auf die Einsichten von Disziplinen wie Kognitions-, Areal- und Kontaktlinguistik gefehlt. Die vorliegende Arbeit soll diese Lücke schließen. Das erste Kapitel beginnt mit einer kurzen Übersicht über Autoren und Konzepte der Sozial- und Kulturanthropologie, die für das Thema relevant sind. Im Anschluss behandele ich Fragen der kognitiven Linguistik wie der Entsprechung zwischen (sozialen) Realitäten und ihrer Reflexion in der Sprache, der historischen Semantik, wiederkehrenden Ableitungsmustern und semantischen Veränderungen der Verwandtschaftsbegriffe und ihrer Entlehnbarkeit. Das zweite Kapitel widmet sich der Überarbeitung rekonstruierter uridg. und ausgewählter idg. Verwandtschaftsbegriffe, ihrer Etymologie, Ableitungsmuster und ihres semantischen Wandels sowie ihrer Merkmale in Bezug auf typologische, areal- und kontaktlinguistische Studien. Das dritte Kapitel konzentriert sich auf universelle, ererbte, kontakt- und areallinguistische Merkmale von Verwandtschaftsbegriffen in ausgewählten zeitgenössischen iranischen Sprachen (drei Hauptvarietäten des Persischen sowie Belutschi, Paschtu, Ossetisch und Yaghnobi). Die Hauptschlussfolgerung dieser Studie ist, dass Verwandtschaftsbegriffe soziale Bedingungen nicht immer direkt und eindeutig widerspiegeln und isoliert betrachtet nicht als Mittel zur Rekonstruktion alter sozialer Strukturen verwendet werden können, wie dies von einigen Forschenden in der Vergangenheit angenommen wurde. In einem breiteren Kontext können Verwandtschaftsbegriffe jedoch an Bedeutung gewinnen. Ähnlich wie DNA-Marker, archäologische Artefakte oder mythologische Motive können sie Informationen über Migrationsbewegungen und kulturelle und sprachliche Kontakte zwischen Völkern geben.